Bin ich depressiv? Habe ich Depressionen?
MARTIN SAURE
28. Juli 2022

Mit diesem ersten Blogartikel der Reihe „Lass uns offen über Depressionen sprechen“ möchte ich mit meiner sehr persönlichen Geschichte vorangehen und dich sensibilisieren. Das wird dich unterstützen, die ersten Warnzeichen zu erkennen und richtig für dich einzuordnen.

Teil 1

Der Weg rein…

Bin ich depressiv oder habe ich Depressionen?

Was ist nur los mit mir?

Irgendwann saß ich im Cockpit meiner mir vertrauten 737, allerdings jetzt mit Ryanair Lackierung, schaute aus dem Fenster auf die Landschaft, war hundemüde und fragte mich, warum nimmst du die Schönheit nicht mehr wahr?

Es war der dritte Tag von fünf Diensttagen in Frühschicht hintereinander. Ich dachte, wenn der Tag rum ist, dann nur noch zweimal morgens um 3 aufstehen und jeweils einen 10-12 Stunden Tag abreißen, dann vier Tage frei. Davon brauchte ich allerdings regelmäßig 1 ½ Tage um mich zu erholen und der letzte freie Tag war schon wieder geprägt von dem Gedanken, morgen geht’s wieder los…. die nächsten fünf Tage.

Ich horchte immer kritischer in mich rein und dachte nur, verdammt, es geht mir nicht gut, was ist nur mit mir los, früher ging das doch auch…

bin ich depressiv

Die Nachricht ereilte mich beim Friseur, Claudia fragte mich per WhatsApp, ob ich schon die Nachrichten gelesen habe. Ich konnte es nicht glauben, AirBerlin hatte Insolvenz angemeldet und die Pressemitteilungen auf allen Kanälen überschlugen sich. Ein gefühlter, brutaler Schlag in meine Magengrube.

Trotzdem war die erste Zeit nach der Bekanntgabe geprägt von der Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht. Man lässtt doch eine so große Airline nicht einfach sterben, da hängt so viel dran, Flugzeuge, qualifiziertes und engagiertes Personal, wertvolle Airport-Slots und eine immense Kundenbindung.

Diese Hoffnung teilte ich mit meinen Kollegen und wir machten alle erstmal hoch motiviert weiter, damit die Basis der AirBerlin erhalten blieb, für eine sichere Übernahme des Flugbetriebes. So wurde es auch von der Geschäftsleitung kommuniziert und somit wurde der Glaube an diese mögliche Perspektive noch befeuert.

Mögliche Auslöser.

Nun saß ich also hier seit 3 Jahren bei meinem neuen Arbeitgeber im Cockpit und fühlte nichts mehr von dem, was ich bisher kannte, was mich jeden Tag motivierte, die Freude an meinem Beruf.

Im Gegenteil, die Firmenphilosophie und der Umgang mit dem Personal baut auf ständige Überwachung, Repressalien, Nichteinhaltung von arbeitgeberseitigen Zugeständnissen, Strafandrohungen und hat so gar nichts mehr mit dem zu tun, wie ich die letzten 25 Jahren erlebte. Der fehlende Respekt und die Anerkennung der Leistung gegenüber eines sehr erfahrenen Flugkapitäns wie mir, setzte mir schwer zu. Ich funktionierte nur noch in meinem persönlichen Autopilotenmodus und erledigte meinen Job so gut wie nötig, ein gewisser Selbstanspruch war ja noch vorhanden. Ich machte also, wie sagt man so schön, Dienst nach Vorschrift. Aber warum fühlte ich mich dazu noch so krank? Ich musste, wollte der Sache auf den Grund gehen.

In den Wochen nach der Verkündung der Insolvenz kam dann intern so einiges ans Licht. Unser letzter CO, der die AirBerlin weiter nach vorn bringen sollte, erwies sich als der Feind im trojanisches Pferd, der einfach nur die Aufgabe hatte, die Abwicklung und Zuführung der Flugzeuge und Strecken an die größte deutsche Airline vorzubereiten. Dann der Betriebsausflug unserer Bundeskanzlerin mit dem Chef von Lufthansa nach Abu Dhabi, wo man sich dann mit der Führungsriege von Etihad traf. Es gab eine enge Geschäftsverbindung zwischen Etihad Airways und AirBerlin und auch eine finanzielle Abhängigkeit. Kurz nach dem Treffen wurden dann plötzlich und unerwartet die bestehenden Verträge einseitig aufgekündigt.

Aber dieses Thema werde ich hier nicht weiter ausführen, da könnte man einen Wirtschaftskrimi draus schreiben.

Fakt war nur, nichts ging weiter, es war schon alles vorher geplant.

Die Flugzeuge wurden größtenteils übernommen und das Personal nicht. Es gab dann ein Angebot sich zu bewerben auf eine neue Stelle bei einer der Unterfirmen besagter Airline. Das bedeutete für uns, mit dem gleichen Arbeitsgerät zu arbeiten, allerdings nur zur Hälfte des bisherigen Gehaltes und ein komplettes Auswahlverfahren durchlaufen zu müssen. Eine wunderbare Gelegenheit, sich von altgedienten, erfahrenen und somit auch teureren Kollegen trennen zu können.

Dieser ganze Prozess dauerte mehrere Monate, die ich dann zu großen Teilen mit Claudia und Sam, unserem Hund, im Wald und in der Natur verbrachte.

Die Corona-Krise traf die Luftfahrtbranche natürlich auch mit voller Macht. Alle Flüge wurden eingestellt und als ich meinen letzten Ryanair Flug machte und die Triebwerke abstellte, dachte ich noch. „Das wars, mein letzter Flug!“

Der Gedanke kam mir erstaunlicherweise sehr emotionslos. Ich war sogar erleichtert, erstmal unerwartet viel freizuhaben. Endlich konnte ich mich sammeln und mich um mich und meine Gesundheit kümmern. Meine Rückenschmerzen waren zeitweise fast unerträglich, kommt von meinem viele Jahre zurückliegenden Bandscheibenvorfall, dachte ich.

Mit dem besiegelten Ende von AirBerlin viel ich erstmal in ein großes Loch, fühlte großes Leid und mich um meine Zukunft betrogen. Unsere persönliche Zukunft war gut geplant. Nach 25Jahren als quasi Gründungsmitglied, enormen Einsatz als Ausbilder und andere verantwortungsvollen Positionen entschied ich mich auf die Langstrecke zu wechseln, alle meine zusätzlichen Ämter abzugeben um nur noch mit einer halben Stelle zu arbeiten. Diese Kombination versprach maximale günstige Work-Live Balance und ein mögliches Leben im Ausland unterbrochen von nur einigen wenigen Arbeitseinsätzen. Ich wollte endlich die Früchte meiner Arbeit ernten, und zwar bevor man in Rente geht. Wir schauten schon intensiv nach möglichen Wohlfühlorten und just in dem Moment war Schluss, aus und vorbei.

Körperwahrnehmung hilft.

Ich hatte einen eher dunkleren Tag und Claudia bat mich inständig ihr ein Gemüsebeet anzulegen, bzw. vorzubereiten.

Mein erste Gedanke war, ganz ehrlich: Was für eine beknackte Idee, ich fühle mich scheiße, es ist heiß, die Sonne scheint, Biogemüse gibt’s auch beim Bauern um die Ecke, und und und…

Aber ich fügte mich, hatte wohl auch nicht genügend Energie für einen nennenswerten Widerstand,

habe ich depressionen

Abends war das Beet von mir, nach anfänglichem Stöhnen, vorbereitet und ich fühlte mich gut, ausgepowert und ich hatte etwas geschafft auf das ich mit Stolz schauen konnte.

Erst einige Wochen später wurde mir klar, es ging nicht ums Gemüse oder um das Beet. Es ging um mich und um das mich rausholen aus den dunklen Wolken.

Ob ich depressiv bin, oder Depressionen habe?

Zu dieser Zeit hätte ich diese Fragen, schon fast beleidigt, mit einem lauten NEIN beantwortet.

Heute weiß ich…

Ich hatte meine erste depressive Episode.

 

Die besagten, damals schon als eher dunkel empfundenen Tage nahm ich zwar bewusst wahr, aber ich bemaß die Symptome fälschlich als einfach nur starke Erschöpfung und ich dachte immer, na ja ist ja kein Wunder bei dem, was mir hier so gerade widerfährt.

Dazu kam noch, dass ich in meiner Beziehung und dem Zusammenleben selbstverständlich weiter aktiv teilnehmen wollte. Ich wäre vermutlich an besagten Tagen nicht mehr aus dem Bett gekommen, wenn ich denn für mich alleine gelebt hätte. Allerdings kann ich das rückblickend nur mutmaßen, denn nach einiger Zeit wurden auch diese schlimmen Tage weniger.

Erektionsstörung durch Depression.

Was mich damals aber von Anfang an begleitet hat, war meine aufkommenden Erektionsstörungen  und die dadurch entstehende sexuelle Unlust, die, wie ich inzwischen natürlich weiß, eine sehr häufige Begleiterscheinung dieser Krankheit sind. Nur war mir damals nicht wirklich klar, dass ich eine Depression hatte und ich nur dachte, zu all den anderen Themen kommt dieses jetzt auch noch mit Macht dazu. Ich sage bewusst mit Macht, denn dieses Thema „macht“ sich richtig breit im Kopf und der Körper wird praktisch in Geiselhaft genommen. Erektionsstörung durch Depression

Und ich spreche wahrhaftig aus eigener Erfahrung, dieser Punkt ist wohl für die meisten ganz schwer in der Partnerschaft zu thematisieren. Man(n) vermutet erstmal aufkommende Un- oder Missverständnisse nach dem Moto: Ah, du findest mich nicht mehr attraktiv. Bedingt durch diese Ängste werden dann Ausweich- und Vermeidungsstrategien entwickelt, die oft alles nur noch schlimmer machen. Oder man greift zu vermeintlichen Allheilmittel, der blauen Pille. Funktioniert aber auch nicht richtig in dieser Situation.

Mir ist durchaus bewusst, dass diese ein stark tabuisiertes Thema ist und gerade deswegen ist es mir ein großes Anliegen dieses aus der oft gut verschlossenen Schublade zu holen. Deswegen gehe ich noch intensiver in den folgenden Blogartikeln darauf ein.

Nur vorweg, ich holte mir externe Hilfe bei dieser Themenbehandlung ein. Ich fand einen sehr kompetenten Berater, er war für mich die perfekte Wahl. Es war keine Langzeitberatung, es nutzten mir schon kleine Impulse und die angebotene Flexibilität bei aufkommendem Verkopft sein mal kurz und unkompliziert ein paar Inputs zu bekommen, um nicht wieder in die alten Muster zu verfallen.

Der Wald.

Aus dieser ersten dunkleren Phase retteten mich Claudia, Sam und der Wald.

Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viele Stunden und Kilometer depressive episode wir im Wald verbracht haben, wie viele Bäume ich angeschrien und umarmt habe. Setzt euch mal unter eine alte weise Buche, lehnt euch an, schließt die Augen und spürt. Das ist unbeschreiblich heilsam und Balsam für die Seele. Da ist so viel mehr als das, was man sonst so denkt, fühlt und wahrnimmt.

Unterstützung aus dem Umfeld.

Auf langen Wanderungen diskutierten wir, weinten, lachten und durchlebten alle Emotionen.

Claudia hat glücklicherweise eine fantastische Ausbildung und einen jahrelangen Werdegang mit viel Erfahrung im Umgang mit Klienten, viel Lebenserfahrung, eine sehr natürliche spirituelle Anbindung und ist dabei doch sehr bodenständig.

Mir ist in dieser Zeit erstmals so wirklich klar geworden, wie alles zusammen hängt, wie wichtig das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele ist. Trotzdem dass ich auf dem Lande und naturnah groß geworden bin, habe ich durch Claudia erst wieder den Blick für das Besondere in der Natur und die vermeintlichen Kleinigkeiten bekommen.

Nun ist es natürlich für beide Seiten nicht so einfach, diese Form von Unterstützung und den Einsatz von wirksamen Tools in einem privaten Kontext zu durchleben und ganz praktisch umzusetzen.

Aber ich denke, wir haben das beide gut geschafft.

Rückblickend von meinem jetzigen Stand war diese Zeit das erste Zusammentreffen mit einer leichten bis mittleren Depression, es fehlte mir aber damals die Erkenntnis und die Einsicht das selbst unmittelbar danach noch so zu erkennen und zu benennen.

Der Nebeneffekt dieser Lebensphase war, ich lernte unbewußt schon unheimlich viel, wurde neugierig und wollte noch besser verstehen auch wenn ich noch nicht alles verstand. So sog ich alles dankbar auf, konnte ja am eigenen Körper und Geist fühlen und wusste schon damals, ich werde mich in diese Richtung weiterbilden.

Alles von vorn.

Ich bekam dann das Angebot, bei Ryanair anzufangen. Es wurden händeringend Piloten gesucht, kein Wunder, AirBerlin hinterließ ja eine grosße Lücke, die jeder nutzen wollte und man versprach uns das Blaue vom Himmel.

Bei dem angesprochenen Lufthansa-Ableger wollte ich nicht anheuern, es war gefühlsmäßig zu krass so verarscht zu werden, mein Stolz und meine Würde sprachen dagegen.

Ich war froh, einfach nur wieder fliegen zu können.

—-

Nachdem ich die Triebwerke bei Ryanair drei Jahre später das letzte Mal abgestellt hatte, wollte ich die Corona-Pause nutzen, um mich erstmal zu sammeln.

Mein Rücken machte mir stark zu schaffen und ich fühlte mich wie schon erwähnt einfach nur erschöpft.

Ich dachte noch, all das, was mir dreieinhalb Jahre zuvor geholfen hatte, wird mir auch jetzt wieder helfen.

Nur jetzt, wo ich das erste Mal seit langer Zeit nicht mehr diese extremen Horrordienste hatte, nach denen ich nur noch tot ins Bett fiel, konnte ich auch nicht mehr richtig schlafen. Einschlafen ging, aber zwei Stunden später setzte pünktlich das Gedankenkarussell ein und ich stand dann morgens auf und fühlte mich wie gerädert.

Claudia fragte mich zu diesem Zeitpunkt mehrmals wie ich mich fühle, ob ich den Eindruck hätte eine Depression zu haben oder zu bekommen.

Ich verneinte entschieden, glaubte selber es wäre nur die Überarbeitung und jetzt die ungewohnte freie Zeit. Ähnlich wie bei den Leuten, die im Job zuverlässig funktionieren und sobald sie Urlaub haben krank werden.

Ich und Depression? Nein, nein, in keinem Fall, ich bin nicht schwach, ich bin stark!!!

Die Selbsterkenntnis.

Aber die Spirale nach unten nahm Woche für Woche immer mehr Fahrt auf, ich spürte mir fehlten die Ressourcen, um dem auf Dauer erfolgreich etwas entgegenzusetzen.

Und trotzdem mochte ich es in der Natur zu sein, sah noch die Schönheit. Was fehlte, war die Klarheit, es gab da diesen leichten grauen Schleier, ich hatte Schwierigkeiten mich einzulassen, mich zu konzentrieren, oder auch einfach nur so wahrzunehmen wie früher.

Dann kam der Tag, wo wir nach einer kleinen Wanderung zum Auto liefen. Es war Abend und warm, die Sonne stand schon tief. Wir verstauten den Rucksack im Wagen, der am Waldrand stand, setzten uns bei offener Heckklappe in den Kofferraum und schauten in die Sonne.

Ich zündete mir eine Zigarette an, blies den Rauch aus und sagte leise:

„Ich glaube, ich habe jetzt eine echte Depression.“

Claudia legte mir ihre Hand auf den Oberschenkel und antwortete: „Ich weiß, Martin!“

Claudia Lehmer, alias Luna

Claudia Lehmer, alias Luna

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